Nanu, was für einer bist denn du? Stimmt es, dass ich gar nichts bin? Alle sagen, ich bin Keiner, nur ein kleiner Irgendeiner…. (Auszug aus „Das kleine Ich bin Ich“ von Mira Lobe)
Eine alleinerziehende Mutter sitzt mir gegenüber und sucht nach Worten. Leon, der Älteste der drei Kinder macht Probleme. „Er ist so ein Angeber. Er macht sich einfach immer wichtig und spielt sich in den Vordergrund. Manchmal erzählt er Geschichten, die so überhaupt nicht stimmen.“ Sie beugt sich vor und flüstert: „Er ist wie sein Vater. Richtig unsympathisch.“
Katja ist 11 Jahre alt. Sie geht in die Mittelschule, weil sie den Einstieg ins Gymnasium nicht geschafft hat. Nach dem Abendessen möchte sie der ganzen Familie eine Tanzeinlage vorführen, die sie tagelang geübt hat. Mit leuchtenden Augen stellt sie sich in Position. Der Opa blickt kurz auf und sagt: „Wär´ gescheiter, du würdest Mathematik üben. Das braucht man fürs Leben.“ Die Mutter setzt noch eins drauf: „Jetzt bist du eh schon in keiner guten Schule und schaffst es noch immer nicht.“
Laurenz ist 8 Jahre alt. Er ist mit seinem Papa bei der Kinderärztin, weil er wieder eine Impfung braucht. Er fürchtet sich sehr vor dem Stich und es kostet ihn viel Überwindung, still zu halten und die Impfung zuzulassen. Zur Belohnung darf er sich ein kleines Spielzeug aussuchen. Es gibt bunte Ringe und Matchbox-Autos. Lobend hält ihm die Ärztin die Schachtel mit den Autos hin. „Such dir eines aus, so tapfere Buben werden hier belohnt.“ „Ich möchte lieber einen Ring“, flüstert Laurenz. Der Vater lächelt verlegen, versucht ihn umzustimmen. Laurenz bleibt dabei: “Aber mir gefallen die Ringe.“ Die Ärztin nimmt die andere Schachtel und Laurenz steckt sich freudestrahlend einen Ring mit einer großen rosa Blüte an den Finger. Sobald die beiden wieder aus der Kinderarztpraxis sind, muss Laurenz dem Vater den Ring geben. „Ich muss mich schämen deinetwegen. Was soll denn die Kinderärztin von dir denken. Ein Bub trägt keine rosaroten Ringe.“
Alle diese Begebenheiten waren Themen in meinen Beratungen. Die Eltern agieren durchaus aus Sorge. Sie möchten ihre Kinder bestmöglich auf das Leben vorbereiten. Sie sollen ein wertvoller Teil der Gesellschaft werden und erfolgreich und glücklich ihr Leben meistern.
Fast alle dieser Eltern können sich gleichzeitig an eine Begebenheit in ihrer eigenen Kindheit erinnern, wo sie gespürt haben, dass sie falsch sind oder das Gefühl hatten, nicht dazuzugehören. Ein Vater war sich in seiner Kindheit sicher, dass er adoptiert oder bei seiner Geburt vertauscht worden war, weil er so anders war als der Rest seiner Familie.
Was also tun, wenn das Kind ganz anders ist, als die Eltern es sich wünschen?
Anders, als die Gesellschaft es wünscht? Wenn es „außer der Norm“ ist? Klüger, empfindsamer, hochbegabt, langsamer, nicht geschlechtskonform, erregbarer, etc.
Von wem hat er/sie das?
So unterschiedlich die verschiedenen Thematiken sind, haben sie eines gemeinsam: beim Kind entsteht das Gefühl, so wie ich bin, mag man mich nicht. Ich bin nicht in Ordnung. So wie ich bin, gehöre ich nicht dazu. Ich bin falsch.
Es ist unsere Aufgabe als Eltern und Erwachsene, den Kindern zu vermitteln, dass sie in Ordnung sind, so wie sie sind. So kann sich ein Kind zugehörig fühlen. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit ist wichtig für die Identität des Kindes. Die Frage: wer bin ich? wird auch dadurch beantwortet, dass ein Kind weiß, spürt, lebt, zu wem es gehört. Weil es da angenommen und geliebt wird, so wie es ist, mit allen Stärken, Schwächen, Eigenheiten und Unterschieden.
Schön ist es natürlich, wenn auch die Gesellschaft widerspiegelt, dass es für alle einen Platz gibt. Wir sind die Gesellschaft - arbeiten wir daran!
Mag. Marie Seibl-Kraus,
MSc psychologische Familien-, Eltern- und Erziehungsberaterin,
LSB KinderPraxis Serviten4tel
Tel.: +43 650 950 1031, elterncoach.net
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