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Es muss von Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll



Ein Wunder für sich


Rainbows ist eine in ganz Österreich tätige Einrichtung, welcher ich seit langer Zeit angehöre. Sie ist darauf ausgerichtet, Kinder nach Trennungen, Scheidungen und Tod in Familien in einem gruppenpädagogischem Angebot und im Einzelsetting seelisch zu unterstützen. Hier wird die Situation kindgerecht und spielerisch aufgearbeitet und die Beziehung zwischen Eltern und Kindern gefördert.


Ein Mann wandte sich verzweifelt an Rainbows, um Unterstützung für seinen zehnjährigen Sohn Richard zu bekommen. Die Familie steckte in einer schwierigen Situation, da die Mutter von einem Tag auf den anderen ins Wachkoma gefallen war. Da so etwas selbst für eine erfahrene Organisation wie Rainbows eine Herausforderung darstellte, erschien eine Einzeltherapie geeigneter. Aus diesem Grund wandte sich Rainbows an mich, damit ich den Fall übernahm. Ich verfügte damals bereits über viel Erfahrung im Bereich der Trauerbegleitung von Kindern und schien somit die richtige Wahl zu sein.


Als die rechtlichen Dinge endlich geklärt waren, kam der Mann zum Erstgespräch zu mir in die Praxis. Er lebte seit einiger Zeit in Scheidung. Nach der Trennung war die Entscheidung gefallen, dass der gemeinsame Sohn bei seiner Mutter leben würde. Seit diese jedoch im Koma lag, kümmerten sich die Großeltern um den Jungen. Für den Vater war es selbstverständlich, für seinen Sohn da zu sein und ihn so gut wie möglich zu unterstützen.


Die Mutter befand sich zu diesem Zeitpunkt nach wie vor in einem komatösen Zustand. Diagnose: Aneurysma. Der Großteil der Menschen mit dieser Diagnose stirbt daran und die Hälfte der Überlebenden bleibt für den Rest ihres Lebens ein Pflegefall, haben meine Recherchen ergeben. Dass sich ihre Situation besseren würde, schien aussichtslos.

Richards Vater fühlte sich hilflos. Er wusste nicht, wie er seinem Sohn den Zustand von dessen Mutter erklären sollte, und die einzige Information, die der Junge bislang erhalten hatte, war: „Mama hat Kopfweh!“ Der Vater sah sich nicht im Stande, seinem Sohn die Situation kindgerecht zu erklären. Aus diesem Grund kontaktierte er mich: um seinem Sohn den nachvollziehbaren Wunsch erfüllen zu können, seine Mutter zu besuchen.


Als Richard das erste Mal zu mir in die Praxis kam, stand vor mir ein geknicktes Kind und seine ersten Worte waren: „Ohne meine Mama kann ich nicht leben und ohne sie traue ich mich nirgendwo hin.“ Ich versuchte ihm daraufhin in kleinen Schritten klar zumachen, in welchem Zustand sich seine Mutter befand. Er nahm meine Worte gefasst auf, so als hätte er es schon geahnt. Man sollte Kinder in dieser Hinsicht nie unterschätzen, da sie überaus feinfühlig sind und sehr wohl den Ernst einer Lage mitbekommen.


Nach Rücksprache mit dem Vater und dem zuständigen Oberarzt wurde ein Besuch im Spital vorbereitet. Um mich selbst auf diese außergewöhnliche Situation vorzubereiten, bat ich eine nette Kollegin, die als Krankenschwester im mobilen Hospiz tätig war, um ein Gespräch. Sie gab mir einige Tipps, wie man in diesem Fall am besten vorgehen sollte.

Noch nie in meinem Leben war ich mit so einer Situation konfrontiert gewesen. Ich überlegte mir darum gut, wie ich den Sohn bestmöglich auf diese Umstände vorbereiten konnte, damit er beim Anblick seiner Mutter – egal, in welchem Zustand sie sein würde – damit umgehen und vielleicht für sie sogar eine Stütze sein konnte. Ich glaube, es muss das Schlimmste für eine Mutter sein, ihr Kind bei sich zu haben, ohne es richtig zu realisieren, aber trotzdem das Verlangen nach Nähe zu seinem Kind zu spüren.

Ab diesem Zeitpunkt stand ich jeden Tag mit dem zuständigen Oberarzt in Kontakt, um den ersten Besuch vorzubereiten. Dieser informierte mich über die wichtigsten Details: Die Mutter hatte früher langes schwarzes Haar gehabt, welches nun komplett abrasiert war. Am Kopf war nach der Notoperation eine lange Narbe zurückgeblieben, was für den Jungen sicher ein Schock sein würde. Aus diesem Grund meinte der Arzt, dass ich ein Kopftuch mitnehmen sollte, um die Narbe damit abzudecken. Die Frau war nach wie vor im komatösen Zustand und es waren bereits schrittweise Aufwachversuche gestartet worden, welche eine geringe Reaktionsfähigkeit in den Fingern und ein gelegentliches Öffnen der Augen zur Folge hatten.

In der Beratungsstunde vor diesem ersten Krankenhausbesuch bastelte ich mit dem Jungen „Sorgenpüppchen“ für sich und seine Mutter. Die bunten und kreativ gestalteten Puppen sollten als Symbol für die Verbindung von Mutter und Sohn jeweils ein Lieblingsstück des anderen umgehängt bekommen. Diese Püppchen würden wir zum Besuch mitnehmen. Sie sollten bei der Mutter im Krankenhaus liegen, um die Verbundenheit weiterhin zum Ausdruck zu bringen.

Kindgerecht und altersadäquat erklärte ich ihm nun die genauen Fakten, was seine Mutter betraf, um ihn bestmöglich auf das zu bevorstehende Bild vorzubereiten. Es war hierbei wichtig, nichts zu beschönigen oder umgekehrt zu dramatisch darzustellen, sondern dem Kind die Realität vor Augen zu führen. Da wir nicht wussten, wie die Situation für Richard und seine Mutter ausgehen würde, war Ehrlichkeit extrem wichtig.


Der große Tag war gekommen. Als wir im Spital ankamen, meldeten wir uns zuerst bei den zuständigen Ärzten an und ich versuchte mir einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Vater und Sohn waren sichtlich nervös und angespannt. Richard hielt seine selbstgebastelten Puppen fest in den Händen – so, als hätte er Angst, sie zu verlieren. Als wir beim Zimmer seiner Mutter ankamen, bat ich die beiden, noch kurz zu warten, damit ich die nötigen Vorbereitungen treffen konnte. Ich ging zu ihrem Bett, schaute sie an und ihr Anblick ließ Trauer und Mitgefühl in mir aufkommen. Die Familie hatte mir Fotos von ihr gezeigt – Fotos, auf denen sie noch gesund und fit gewesen war. Es war, als läge ein anderer Mensch vor mir. Sie war sichtlich abgemagert und schwach. Langsam nahm ich ihre Hand, woraufhin sie meine fest drückte und ich wusste, dass sie mich wahrgenommen hatte. Ich beugte mich zu ihr vor und sagte nur: „Ich bin die Uschi und ich bringe Ihnen Ihren Sohn.“ Sie öffnete kurz die Augen, sie fielen aber sogleich wieder zu.


Sanft legte ich ihr das Tuch, das ich mitgebracht hatte, über den Kopf und verschaffte mir einen Überblick über die große Ansammlung an Geräten und Schläuchen, an denen sie hing. Zu sehen, wie ein Mensch durch Schläuche am Leben erhalten wird, war ein furchterregender Anblick für mich. Mir war klar, dass ich den Jungen auf dieses Bild vorbereiten musste. Ich ging zurück in den Warteraum, wo die beiden auf mich warteten. Ich bückte mich zu Richard hinunter und sagte zu ihm: „Wenn du jetzt da hineingehst, wird deine Mama schlafen. Sie hat ein Tuch auf dem Kopf, um ihre Wunde zu verdecken und es hängen sehr viele Schläuche um sie herum. Diese dienen dazu, ihr beim Atmen zu helfen und ihre Werte zu kontrollieren. Vielleicht öffnet sie ihre Augen, doch es kann auch sein, dass sie weiterschläft.“ Der Junge war natürlich noch immer aufgeregt und ängstlich, als wir das Zimmer betraten. Sein Vater stellte sich wortlos an die Seite des Bettes und wir gegenüber. Richard setzte sich hin und ich legte – wie zuvor meine – behutsam seine Hand auf die seiner Mutter. Diese drückte sie fest und öffnete kurz ihre Augen. Richard traute sich nicht, den Blick zu erwidern, worauf ich mich hinter ihn stellte, um ihm Kraft und Rückhalt zu geben. Ich flüsterte ihm ins Ohr, dass er keine Angst haben musste. Langsam ermutigte ich ihn, seinen Kopf neben den seiner Mutter zu legen, woraufhin er ihn auf ihre Brust legte. Das war ein Moment, der niemanden kalt lässt: einerseits erfüllt von Freude, dass sie einander haben und anderseits voller Traurigkeit. Richards Vater und ich standen still und blieben an der Seite des Jungen stehen, um ihm auch weiterhin Halt zu geben. Wir blieben etwa zehn Minuten so stehen, bis Richard seinen Kopf hob und das Sorgenpüppchen, das er gebastelt hatte, an den Haltegriff über den Kopfteil des Bettes hängte. Diese Kleinigkeit ließ das Rundherum ein wenig in den Schatten treten und erfüllte den Raum mit kindlicher Liebe. Danach verabschiedete er sich von seiner Mutter und wir verließen das Zimmer.

„Jetzt haben wir uns aber ein Eis verdient!“, sagte der Vater des Jungen, der seinen Sohn ganz offensichtlich aufmuntern und ablenken wollte. Während der Fahrt zum Eissalon redete ich noch einmal mit Richard über das Erlebte und fragte, wie es ihm jetzt gehe. Er wirkte traurig und doch zufrieden, seine Mutter gesehen zu haben: „Ich will Mama wieder besuchen, aber nur, wenn du auch mitkommst!“ Natürlich willigte ich ein und freute mich, dass Richard so gut mit der Situation umging. Er war ein wirklich tapferer kleiner Mann!


Bevor wir seine Mutter erneut im Krankenhaus besuchten, erhielt ich vom Oberarzt einen kurzen Bericht über ihren aktuellen Gesundheitszustand. Dieser verbesserte sich nämlich täglich und die Ärzte sprachen schon von einem „Wunder der Medizin“. Die Familie freute sich unheimlich darüber und ich sah in den Augen des Jungen erstmals ein glückliches Lächeln. Der nächste Besuch war für Richard dann auch schon weitaus entspannter – und auch sein Vater war sichtlich beruhigt.

Kurze Zeit später begleitete ich die beiden noch ein weiteres Mal, doch von da an schafften sie die Krankenhausbesuche alleine.

Über ein halbes Jahr verging, bis eines Tages das Telefon in meiner Praxis läutete. „Du bist die Uschi?“, fragte die Anruferin. „Ja“, antwortete ich und fragte: „Wer spricht denn da?“ Am anderen Ende der Leitung sagte die Frau dann: „Du bist die Uschi, die mir damals meinen Sohn gebracht hat.“ Ich wusste sofort, wer am anderen Hörer war. „Ich würde dich gerne kennenlernen.“

Ich freute mich über diesen Anruf und wir vereinbarten ein Treffen. Sie kam in meine Praxis und von Anfang an waren wir richtiggehend vertraut miteinander. Sie erzählte mir, dass es damals so wichtig für sie gewesen war, ihren Sohn zu sehen und wie sehr ihr das bei ihrer Genesung geholfen hatte, da ihr Lebenswille wieder zum Vorschein gekommen war. „Die Worte, die du mir in meinem Komazustand gesagt hattest, sind mir bis heute in Erinnerung geblieben. Als ich aufgewacht bin, dachte ich mir: ‚Diese Frau möchte ich kennenlernen!’“

Vor mir saß eine gesunde, hübsche Frau mit wunderschönen schwarzen Haaren. Bei ihrem Anblick wurde mir klar: Es war einer der besten Entscheidungen meines Lebens gewesen, dass ich diesen Fall übernommen habe.


Weitere zwei Jahre vergingen, bis erneut das Telefon klingelte und die junge Frau mich herzlich begrüßte, bevor sie mir erklärte, dass Richard große Probleme in der Schule hatte und dieser von sich aus gemeint hätte: „Wir gehen zur Uschi.“

Als die beiden wenig später meine Praxis besuchten, sah ich zu meiner Überraschung, dass beide Elternteile gemeinsam mit Richard gekommen waren und sie erzählten mir, dass sie wieder zusammen seien und als glückliche Familie unter einem Dach lebten. Das freute mich natürlich umso mehr und so lachten wir zu viert in meinem Vorzimmer darüber, wie verrückt das Leben doch manchmal sei.

Die Eltern meinten noch: „Die neue Problematik unserer Familie ist für dich ja ein Kinderspiel, Uschi.“ Sie hatten recht, denn nach drei Treffen war die aktuelle Problematik – er hatte einfach eine Zeit lang keine Lust auf die Schule gehabt – gelöst, indem ich ihn bei der Selbstverantwortung gepackt und ihm klargemacht hatte, dass er nicht für seine Eltern, sondern für sich zur Schule ging.


Uschi Novak


Psychosoziale Lebensberatung

Familienberatung

Dückegasse 7/2/25

1220 Wien



Ursula Novak geb. 1965 in St. Pölten, NÖ ist diplomierte psychosoziale Lebensberaterin, seit 13 Jahren in freier Praxis tätig und arbeitet tagtäglich mit Familien in unterschiedlichen Kontexten. Sie begleitet Familien bei Trennung, Scheidung oder Tod im nahen Umfeld. Die Autorin hat in ihrem Buch die bewegendsten und berührendsten Geschichten aus ihrem BeraterInnendasein (anonymisiert) niedergeschrieben. Sie möchte Leser und LeserInnen erreichen und wieder auf andere Werte besinnen, die wichtig sind im Leben: Zusammenhalt, Kommunikation und Zeit miteinander. "Meine Berufung ist es, für andere da zu sein."


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