Warum die aktuelle Krise beim Befinden unserer Kinder nichts Überraschendes sein sollte und die „propagierten“ psychotherapeutischen Angebote kein Allheilmittel sind.
Emmy Werner, geboren am 26. Mai 1929 in Eltville am Rhein, ist eine US-amerikanische Entwicklungspsychologin, welche durch ihre Längsschnittstudie an 698 Kindern auf der Hawaii-Insel Kauai, bekannt geworden ist. Die 1977 veröffentlichte Studie zeigt, dass sich Kinder mit Risikofaktoren (wie zum Beispiel Armut, Vernachlässigung oder Gewalt) im Durchschnitt negativer entwickelten als Kinder, welche ohne Risikofaktoren aufgewachsen waren.
Das überraschende Ergebnis von Emmy Werners Studie ist, dass es auch circa ein Drittel Kinder gab, die sich trotz Risikofaktoren positiv entwickelten.
Die entscheidende Frage damals war: „Wer oder was ist dafür verantwortlich, dass sich diese Kinder trotz widriger Umstände positiv entwickeln konnten?“
Diese Frage sollte uns Erwachsene in Zeiten wie diesen, in denen Kindern und Jugendlichen ganz allgemein eine hohe Belastung durch verschiedene Risikofaktoren und Maßnahmen bescheinigt wird, am meisten beschäftigen.
Leider sind einige Eltern, Pädagogen und auch verschiedenste psychologische, medizinische und therapeutische Fachkräfte derzeit – bestärkt durch „Online - Umfragen" mehr mit dem Beklagen fehlender (Therapie- und Verdienst-) Möglichkeiten beschäftigt, als tatkräftig zu tun, was jeder von uns tun kann, um die Resilienz der Kinder und Jugendlichen zu stärken. Zumindest ist es das, was medial wiedergegeben wird.
Therapieplätze für Kinder und Jugendliche auf „Krankenschein“ fehlen schon seit vielen Jahren. Therapien sollen etwas wiedergutmachen und stellen einen wichtigen Baustein in der Gesundheit eines Menschen dar. Doch was ist mit der Lebensphase bis zur Stellung einer Diagnose? Was wird getan, damit es möglichst nicht zu einer Erkrankung kommt?
Resilienz ist so alt wie die Menschheit selbst
Emmy Werner und Ruth Smith fanden in ihrer „Kauai-Studie“ heraus, was entscheidend für die positive Entwicklung der Kinder trotz Risikofaktoren war: „Es benötigte zumindest „eine“ enge Bezugsperson, die sich liebevoll um sie kümmerte und auf ihre Bedürfnisse reagierte, die Grenzen setzte und Orientierung bot.“
Auch diese Erkenntnisse sind Grundlage für die Mitarbeiter*innen des Vereins Österreichischer Kinderschutzbund Wien und die Referenten*innen des Netzwerk Elternbildung Wien, wenn sie Eltern bei Elternseminaren und Elternfachvorträgen darin bestätigen/ermutigen, genau diese liebevollen und haltgebenden Bezugspersonen für ihre Kinder zu sein.
Die Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie-Maßnahmen auf unsere Kinder- und Jugendlichen zeigen eindeutig, dass der Grundstein dafür schon weit im Voraus gelegt und sogar akzeptiert wurde.
Um „neuen“ Eltern das Wissen und die umfangreichen Kompetenzen für eine kinderstärkende Beziehung/Erziehung näher zu bringen, genügt es nicht die medizinischen Mutter-Kind-Pass Untersuchungen zu erledigen und das damit verbundene Kinderbetreuungsgeld (KBG) auszubezahlen, denken wir. Präventiv wirkende Elternbildungsmaßnahmen – von Geburt an – sollen endlich flächendeckend und am besten in Kombination zu den Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen angeboten werden.
Millionenbeträge werden in Reparaturmedizin investiert
"Wir müssen unsere Gesellschaft neu aufbauen, mit einem fokussierten Blick auf die Kinder und die Familie. Anders können wir uns nicht mehr weiterentwickeln. Dann schafft der Mensch sich schon sehr bald selbst ab." schrieb der Familienforscher Michael Hüter in seinem Buch Kindheit 6.7.
Kinder und Jugendliche litten schon weit vor der Coronavirus-Pandemie an sogenannten „Stresszuständen“. Diese ausschließlich und in aller Öffentlichkeit auf die Covid-19-Maßnahmen zu begründen, ist so nicht korrekt, finden wir.
Kinder benötigen – siehe oben, Kauai-Studie – zumindest eine verlässliche, liebevolle, zeitlich zur Verfügung stehende Bezugsperson. Doch leider werden (müssen) die Jüngsten unserer Gesellschaft schon sehr früh in Fremdbetreuung. In vielen Kindergärten herrscht akuter Mangel an qualifizierten Fachkräften und Kinder haben dort, mit dem vorherrschenden „Betreuungsschlüssel“ (Kinderanzahl pro Betreuer*in) sowie Auswechslungen der Elementarpädagogen*innen kaum die Möglichkeit eine, für ihre Entwicklung wichtige, Bezugsperson zu finden.
Eltern und Obsorgeberechtigte sind oftmals aus monetären Gründen gezwungen, dem vorherrschenden Wirtschaftssystem, das kaum Rücksicht auf die Bedürfnisse von heranwachsenden Kindern und deren Familie nimmt, zur Verfügung zu stehen.
Neben einem Mangel an stärkenden Beziehungen kommt für Heranwachsende noch erschwerend hinzu, dass sie in einer Gesellschaft „großwerden“ die Alles und Jeden mit „gut und schlecht“ , „sehr gut - nicht genügend“, „brav und böse“ bewertet und permanent Bestleistungen bzw. Erfolge einfordert. Freizeit bzw. Bewegung, das kindlich-kreative Spiel – für die Entwicklung von Kindern besonders wertvoll -sind beim aktuellen Stundenausmaß in Kindergärten, Schulen, zusätzlichen Förderkursen und Lerneinheiten so gut wie unmöglich.
„Kinder brauchen Freizeit“ war eine der Kernaussagen des Studienleiters, Dr. Holger Ziegler, Universität Bielefeld, zur Stress-Studie 2015. Schon damals wurde festgestellt, dass ca. jedes sechste Kind und jeder fünfte Jugendliche in Deutschland von Stress betroffen ist.
Keine Therapie ohne Diagnose!
Flächendeckende Therapieangebote zu schaffen ist für Kinder, Jugendliche, Erwachsene mit einer eindeutig erstellten Diagnose sinnvoll. Sie lernen dann vielleicht mit den Problemen besser zurande zu kommen.
Kinder ohne Diagnosen und deren Familien, sollten mit präventiv wirksamen Maßnahmen unterstützt werden, statt mit einem Therapieangebot.
Die flächendeckende Elternbildung sowie Elternberatung zur Vermittlung von Erziehungs-/Beziehungswissen an alle Eltern und vor allem finanzielle Unterstützung für Familien, sollten in den politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen in den Vordergrund rücken.
„An Apple a day keeps the doctor away”
Starke – weil bestens geschulte – Eltern vermitteln ihren Kindern Sicherheit und helfen mit, dass diese Kinder – mit ausgeprägter Resilienz ausgestattet – zu verantwortungsvollen, sozial-empathischen Erwachsenen heranreifen können.
Martina Lemp & Sascha Hörstlhofer
Österreichischer Kinderschutzbund – Wien
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