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Plädoyer für verhaltensauffällige Kinder - ein Beitrag zu zwei mal 100

von Herbert Stadler

Verhaltensauffällige Kinder hat nicht der "Storch" gebracht; als Teil unserer Gesellschaft spiegeln sie deren Probleme wider! Widrige Lebensumstände, familiäre Fehlerziehung, Entwicklungs- und Beziehungsstörungen, tragische Ereignisse, traumatische Trennungs- und Verlusterlebnisse haben sie zu Symptomträgern gemacht.

Verhaltensauffällige Kinder sind meist unglückliche, auch ungeliebte und einsame Kinder,  die eben nicht selbst schuld an ihrem Verhalten sind; sie sind arm dran, es geht ihnen schlecht und niemand von uns Erwachsenen - die das Glück haben, auf der Sonnen­seite des Lebens zu Hause zu sein - möchte eigentlich in ihrer Haut stecken. Viele dieser Kinder sind Sozialwaisen, weil sie nicht getragen, nicht eingebunden sind in verlässliche, sie bergende und schützende Beziehungen. Oft konnten sie aus keinem "Nest" fallen, weil sie de facto nie eines hatten!

Verhaltensauffällige Kinder haben daher als sozial und emotional benachteiligte Mitmenschen Anspruch darauf, dass man sie und ihre Probleme mit dem größten Respekt behandelt. Sie können uns infolge ihrer psychischen Benachteiligung nicht immer so folgen, wie wir das von ihnen erwarten. Es ist demnach keine Frage des Wollens!

Verhaltensauffällige Kinder sind auf das Verständnis ihrer erwachsenen Bezugspersonen angewiesen. Darin liegt aber auch der Schlüssel für einen erfolgreichen Umgang mit ihnen: Wenn wir Erwachsenen diese sozial und emotional benachteiligten Kinder verstehen, werden wir sie zunächst in ihrem So-Sein akzeptieren. Wenn wir sie akzeptieren, werden wir sie mögen. Wenn wir sie mögen, schaffen wir jene Atmosphäre, in der eine menschlich tragfähige und belastbare Erwachsenen-Kind-Beziehung eine Wiedergutmachung ermöglichen kann, etwa im Sinne Grillparzers: Und mache gut, was andere verdarben!

Verhaltensauffällige Kinder wollen uns Erwachsene grundsätzlich nie persönlich angreifen - wir müssen oft nur im Sinne von Übertragungen als Ersatzobjekte herhalten; eine falsche Sichtweise unsererseits bzw. die Fehlinterpretation der auffälligen Signale verschlimmern nur noch den von uns beklagten Zustand. Nur professionelle Distanz zu den Symptomen, ein kühler Kopf und das Wissen um die komplexen Zusammenhänge, sowie konsequente Strategien können zum Abbau der uns sicherlich im Alltag stark belastenden Auffälligkeiten beitragen.

Verhaltensauffällige Kinder müssen permanent kompensieren und zwar ihren Mangel an Zuwendung, Anerkennung, Sicherheit und Selbstwert. Sie leiden in extremer Weise an Ich-Armut, da ihre seelischen Grundbedürfnisse bislang traumatisierend missachtet wurden. Diese Kinder müssen deswegen auffallen, weil sie bisher kaum jemandem aufgefallen sind. Negative Beachtung ist für sie allemal noch besser als gar keine Beachtung! Im Umgang mit diesen Kindern müssen wir Erwachsenen daher zunächst daran denken, was sie brau­chen und nicht was sie sollen.

Verhaltensauffällige Kinder werden im Grunde genommen von einer tiefen Angst in die Aggressivität getrieben, nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung! Oder: Wenn ich  nicht mehr geliebt werde, soll man mich wenigstens fürchten! Die Tragik des aggressiven Kindes ist die Tatsache, dass seine Signale als vermeintliche Stärke und nicht als Notsignal einer inneren Schwäche und Verzweiflung wahrgenommen werden.

Verhaltensauffällige Kinder sind ständig gezwungen, die unsichtbaren Prozesse ihrer seelischen Verwundungen sichtbar zu machen. Ihre Symptome sind Signale, sind die Sprache der entbehrenden Kinderseele und keine Eigenschaften! Es gibt nicht "den Verhaltensgestörten"! Diese Kinder sind daher nicht "G'störte" im abwertenden und vorverurteilenden Sinne, so nach der Redensart: Wer stört, ist gestört! Sie sind Kinder mit besonderen Bedürfnissen, mit dem berechtigten Bedürfnis jedes Menschen nach Annahme, Anerkennung, Sicherheit und Geborgenheit!

Verhaltensauffällige Kinder brauchen demnach ein Übermaß an Anerkennung, Lob, Zuwendung und vorerst die beinahe bedingungslose Annahme unsererseits. Das und nur das lässt sie Vertrauen schöpfen. Allmählich und oft in kaum merkbaren Schritten fassen sie Mut, ihren Schutzschild, ihre Panzerung aufzugeben. Sie wehren sich nämlich nur so lange, wie sie es für notwendig erachten.

Verhaltensauffällige Kinder brauchen äußeren Halt für ihre innere Destabilisierung, sie brauchen klare Regeln und Strukturen in ihrer Orientierungslosigkeit; sie brauchen unendlich viel Geduld und Verständnis, sie brauchen genau das, was sie im Alltag paradoxerweise durch ihr Verhalten vordergründig und vehement von sich zu weisen scheinen. Sie fordern von uns Erwachsenen das ein, was menschlich gesehen wohl am schwierigsten ist umzusetzen: Liebe mich dann am meisten, wenn ich es am wenigsten verdiene!

Verhaltensauffällige Kinder brauchen uns Erwachsene zu Hause, in Schule, Kindergarten und Hort als Freunde: viel mehr den/die Bezieher/in in uns als den/die Erzieher/in. Diese Kinder brauchen uns souverän, nervenstark, ruhig und besonnen. Sie brauchen uns Erwachsene als Vorbilder, und sie akzeptieren in der Regel, was wir ihnen vormachen, vorleben und nicht, was wir ihnen bloß sagen.

Verhaltensauffällige Kinder sind nicht immer schlimm, nicht immer aggressiv, nicht immer lästig. Sie sind auch nett und liebenswert, nicht nur, wenn sie schlafen! Allein das herausfinden zu dürfen, lohnt den Einsatz für sie!

Herbert Stadler war Lehrer für Sonderpädagogik, ist in zahlreichen humanitären und lehrenden Funktionen tätig und jahrelanger kritischer Beobachter des Österreichischen Kinderschutzbundes.

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