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„Sinnbefreite Inklusion im Schulsystem“

Aktualisiert: 26. Juli 2021

Ein Bericht über Kinder und Jugendliche, die von Schule zu Schule weitergereicht

werden und immerfort ihr Umfeld an deren Grenzen bringen.


Kinder brauchen während ihrer Entwicklung, einen sogenannten „sicheren Ort“ und eine

sichere Bindung, um gestärkt ein Leben in Selbstverantwortung haben zu können. In der

Schule erlebe ich zunehmend Kinder und Jugendliche, die diesen sicheren Ort oft von Geburt an nie hatten.


Deshalb begeben sie sich ständig auf die Suche nach ihren Grenzen und sind

dabei höchst sensibel und aggressiv zugleich. Kleinste Irritationen können zu Wutanfällen

und gewalttätigen Eskalationen führen. Mit ihrem Verhalten sichern sich diese

Schüler*innen Aufmerksamkeit und zeigen uns damit gleichzeitig ihre persönliche

Überforderung.


Mit ihrem „destruktiven“ Verhalten bringen diese Kinder Schule, Kinder- und Jugendhilfe

und die Kinder- und Jugendpsychiatrie an ihre Grenzen und werden von einem zum anderen

„System“ gereicht.


Bei Einschränkungen der Lernfähigkeit, körperlichen Beeinträchtigungen oder

Beeinträchtigungen der Sinne ist eine gut funktionierende Integration möglich. Jedoch

führen schwerwiegende, soziale und psychische Probleme der Schulkinder das Schulsystem

zum Kollaps.

Der „sonderpädagogische Bereich“ im aktuellen Schulsystem bemüht sich seit Jahren um

„Gehör“ in der Politik, um Bildung für sogenannte „Systemsprenger“ möglich zu machen.


Wir liefern Ideen, Konzepte, sprechen aus Erfahrung bzw. direkt aus der „ersten Reihe“

sozusagen, doch niemand „erhört“ uns.


Wir berichten von Vorschulkindern, die in ihrer jüngsten Kindheit schon so kaputt gemacht

wurden, dass sie auch im Einzelkontakt keine zwei Stunden durchhalten, ohne selbst- oder

fremdgefährdend zu werden, von Zehnjährigen, die erfahrene, vertraute Pädagogen

plötzlich mit einem Messer bedrohen, weil sie Grenzen nicht akzeptieren, von

Vierzehnjährigen, die einkoten, weil sie ihr junges Leben lang psychische und physische

Misshandlungen erfahren haben, von Jugendlichen, die sich die Arme und Beine

aufschlitzen, um danach schmutziges Papier oder Tintenpatronen in die Wunden zu stecken

und diese im Anschluss selbst zuzunähen, von jungen Mädchen, die Essen verweigern und

sich die Unterlippe wegbeißen, von armen Seelen, die Dinge erlebt haben, die sich niemand, der in diesem Bereich nicht tätig ist, vorstellen kann und vermutlich gar nicht vorstellen will.

Vom Aufwachsen im Kot der Familie, von unmenschlicher Gewalt, vom Anschaffen der

Drogen für die eigenen Eltern.


Diese Kinder sitzen verteilt an verschiedensten Schulstandorten und „sprengen“ dort

jeglichen Rahmen (Schulordnung inklusive). 


Der Inklusionsgedanke ist in diesen Fällen absurd! Diese „minderjährigen Opfer“ der eigenen Familie und bei ehrlicher Betrachtung unserer wegschauenden Gesellschaft müssen durch Lernen zu vertrauen und Zulassen von positiven Beziehungen überhaupt erst inklusionsfähig gemacht werden.


Wie kann Bildung für Kinder mit diesen Lebensgeschichten funktionieren?


Ressourcen müssen gebündelt und unter einem Dach vereint werden. Es braucht

ganzheitliche Konzepte im Verbund mit medizinischen Einrichtungen und den

Mitarbeiter*innen sowie Möglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe. Kurz gesagt eine

multiprofessionelle, pädagogische und psychosoziale Versorgung jener Schüler*innen, die

sich selbst und das Schulsystem über den „Rand der Belastbarkeit“ bringen und

kostenintensive, permanente Begleitung in Form von Begleitlehrkräften, zur Lern- und

Arbeitsfähigkeit, benötigen.


Erfolgversprechende Konzepte von sonderpädagogischen Kleinklassen, Nachsorgeklassen

und Reha-Klassen sind schon seit einiger Zeit im kleinen Ausmaß in Anwendung. Eine

baldige, bedarfsdeckende Umsetzung wäre zusätzlich zur Wiederaufnahme der Ausbildung

zur*m Sonderschulpädagogen*in wünschenswert! Mit dem Gießkannenprinzip alle

zukünftigen Lehrer*innen mit ein bisschen Information und viel zu wenig Praxis zu versorgen

ist zu wenig – eine Spezialisierung in diesem höchst sensiblen Bereich ist, nach meinen

Erfahrungen, unumgänglich.


Ende Juni war ich wieder bei einer sogenannten Förderkommission, wo für betroffene

Schulkinder (die absolute „Spitze des Eisbergs“) halbwegs adäquate Schulplätze gefunden

werden sollte. Doch diese Plätze gibt es aktuell nicht!!! Die Förderkommission beriet

erfolglos drei Stunden lang über 70 unterrichtspflichtige Schulkinder von denen jedes eine

individuelle, dramatische und traurig machende Lebensgeschichte „mitbringt“.


Im Moment ist unklar, wo viele von ihnen im Herbst den Schulstart haben werden. In den meisten Fälle ist es für Lehrkräfte ohne sonderpägogische Zusatzausbildung und deren Schüler*innen unzumutbar, ein noch nicht integrierfähiges Kind, im Klassenverband zu haben.


Auch chronische Erkrankungen bei Schulkindern können überfordern!


Darüber hinaus kommt es gar nicht selten vor, dass ungeschulte Lehrer*innen kognitiv

gesunden Kindern mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Epilepsie, .... aus

nachvollziehbarer Überforderung und Angst „etwas falsch zu machen“ mit Abwehr oder

Überbehütung begegnen. Darunter leidet die Chancengleichheit beim betroffenen Kind, da

oftmals eine „Differenzierung des Unterrichts“ leider nicht stattfindet/stattfinden kann.

Medizinischer Support und eine entsprechende Vorbereitung schon während der Ausbildung können hier leicht Abhilfe schaffen. 


Einladung an verantwortliche (politische) Entscheidungsträger*innen!


Ich lade sämtliche Politiker*innen ein, einer Sitzung der Förderkommission „beizuwohnen“,

um die Lebensgeschichten der betroffenen Minderjährigen zu hören. Ebenso prägend wäre

es für Erwachsene diese Kinder und Jugendlichen einen Vormittag lang zu begleiten, um mit

eigenen Augen die Verletzlichkeit und den „Schrei nach Hilfe“ zu sehen! 


Ich bin sicher, dass ein weiteres Ignorieren der Missstände danach nicht mehr möglich ist!


Diese Kids haben sich ihre Lebenslage nicht ausgesucht und es nicht verdient, verwahrlost,

schutzlos und ignoriert auf Schulbildung verzichten zu müssen.


Zahlreiche Menschen im Schulbereich suchen täglich nach Lösungen, schaffen Bündnisse

und vernetzen sich, um zu helfen. Doch die Ressourcen sind ausgeschöpft. Es geht nicht

mehr weiter. Das Schulsystem benötigt „jetzt“ die tatkräftige Unterstützung der politischen

Entscheidungsträger*innen. Ein Einsatz in diesem Bereich ermöglicht eine große Chance auf

„Bildung für alle Kinder“ (Inklusionskinder und deren mitleidenden Schulkameraden*innen)

und in weiterer Folge eine enorme Entlastung für unser gesellschaftliches System (Bildung,

Wirtschaft, Justiz, Gesundheit und Soziales) in Österreich. 


Daniela Jagsch Wien, am 02.07.2021


Daniela Jagsch, BEd.

Schulleiterin

Heilstättenschule

1150 Wien, Huglgasse 3

Tel. . +43 1 4000 56 0080

Fax: +43 1 4000 99 56 0080

Mail: direktion.915053@schule.wien.gv.at







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