Ein Bericht über Kinder und Jugendliche, die von Schule zu Schule weitergereicht
werden und immerfort ihr Umfeld an deren Grenzen bringen.
Kinder brauchen während ihrer Entwicklung, einen sogenannten „sicheren Ort“ und eine
sichere Bindung, um gestärkt ein Leben in Selbstverantwortung haben zu können. In der
Schule erlebe ich zunehmend Kinder und Jugendliche, die diesen sicheren Ort oft von Geburt an nie hatten.
Deshalb begeben sie sich ständig auf die Suche nach ihren Grenzen und sind
dabei höchst sensibel und aggressiv zugleich. Kleinste Irritationen können zu Wutanfällen
und gewalttätigen Eskalationen führen. Mit ihrem Verhalten sichern sich diese
Schüler*innen Aufmerksamkeit und zeigen uns damit gleichzeitig ihre persönliche
Überforderung.
Mit ihrem „destruktiven“ Verhalten bringen diese Kinder Schule, Kinder- und Jugendhilfe
und die Kinder- und Jugendpsychiatrie an ihre Grenzen und werden von einem zum anderen
„System“ gereicht.
Bei Einschränkungen der Lernfähigkeit, körperlichen Beeinträchtigungen oder
Beeinträchtigungen der Sinne ist eine gut funktionierende Integration möglich. Jedoch
führen schwerwiegende, soziale und psychische Probleme der Schulkinder das Schulsystem
zum Kollaps.
Der „sonderpädagogische Bereich“ im aktuellen Schulsystem bemüht sich seit Jahren um
„Gehör“ in der Politik, um Bildung für sogenannte „Systemsprenger“ möglich zu machen.
Wir liefern Ideen, Konzepte, sprechen aus Erfahrung bzw. direkt aus der „ersten Reihe“
sozusagen, doch niemand „erhört“ uns.
Wir berichten von Vorschulkindern, die in ihrer jüngsten Kindheit schon so kaputt gemacht
wurden, dass sie auch im Einzelkontakt keine zwei Stunden durchhalten, ohne selbst- oder
fremdgefährdend zu werden, von Zehnjährigen, die erfahrene, vertraute Pädagogen
plötzlich mit einem Messer bedrohen, weil sie Grenzen nicht akzeptieren, von
Vierzehnjährigen, die einkoten, weil sie ihr junges Leben lang psychische und physische
Misshandlungen erfahren haben, von Jugendlichen, die sich die Arme und Beine
aufschlitzen, um danach schmutziges Papier oder Tintenpatronen in die Wunden zu stecken
und diese im Anschluss selbst zuzunähen, von jungen Mädchen, die Essen verweigern und
sich die Unterlippe wegbeißen, von armen Seelen, die Dinge erlebt haben, die sich niemand, der in diesem Bereich nicht tätig ist, vorstellen kann und vermutlich gar nicht vorstellen will.
Vom Aufwachsen im Kot der Familie, von unmenschlicher Gewalt, vom Anschaffen der
Drogen für die eigenen Eltern.
Diese Kinder sitzen verteilt an verschiedensten Schulstandorten und „sprengen“ dort
jeglichen Rahmen (Schulordnung inklusive).
Der Inklusionsgedanke ist in diesen Fällen absurd! Diese „minderjährigen Opfer“ der eigenen Familie und bei ehrlicher Betrachtung unserer wegschauenden Gesellschaft müssen durch Lernen zu vertrauen und Zulassen von positiven Beziehungen überhaupt erst inklusionsfähig gemacht werden.
Wie kann Bildung für Kinder mit diesen Lebensgeschichten funktionieren?
Ressourcen müssen gebündelt und unter einem Dach vereint werden. Es braucht
ganzheitliche Konzepte im Verbund mit medizinischen Einrichtungen und den
Mitarbeiter*innen sowie Möglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe. Kurz gesagt eine
multiprofessionelle, pädagogische und psychosoziale Versorgung jener Schüler*innen, die
sich selbst und das Schulsystem über den „Rand der Belastbarkeit“ bringen und
kostenintensive, permanente Begleitung in Form von Begleitlehrkräften, zur Lern- und
Arbeitsfähigkeit, benötigen.
Erfolgversprechende Konzepte von sonderpädagogischen Kleinklassen, Nachsorgeklassen
und Reha-Klassen sind schon seit einiger Zeit im kleinen Ausmaß in Anwendung. Eine
baldige, bedarfsdeckende Umsetzung wäre zusätzlich zur Wiederaufnahme der Ausbildung
zur*m Sonderschulpädagogen*in wünschenswert! Mit dem Gießkannenprinzip alle
zukünftigen Lehrer*innen mit ein bisschen Information und viel zu wenig Praxis zu versorgen
ist zu wenig – eine Spezialisierung in diesem höchst sensiblen Bereich ist, nach meinen
Erfahrungen, unumgänglich.
Ende Juni war ich wieder bei einer sogenannten Förderkommission, wo für betroffene
Schulkinder (die absolute „Spitze des Eisbergs“) halbwegs adäquate Schulplätze gefunden
werden sollte. Doch diese Plätze gibt es aktuell nicht!!! Die Förderkommission beriet
erfolglos drei Stunden lang über 70 unterrichtspflichtige Schulkinder von denen jedes eine
individuelle, dramatische und traurig machende Lebensgeschichte „mitbringt“.
Im Moment ist unklar, wo viele von ihnen im Herbst den Schulstart haben werden. In den meisten Fälle ist es für Lehrkräfte ohne sonderpägogische Zusatzausbildung und deren Schüler*innen unzumutbar, ein noch nicht integrierfähiges Kind, im Klassenverband zu haben.
Auch chronische Erkrankungen bei Schulkindern können überfordern!
Darüber hinaus kommt es gar nicht selten vor, dass ungeschulte Lehrer*innen kognitiv
gesunden Kindern mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Epilepsie, .... aus
nachvollziehbarer Überforderung und Angst „etwas falsch zu machen“ mit Abwehr oder
Überbehütung begegnen. Darunter leidet die Chancengleichheit beim betroffenen Kind, da
oftmals eine „Differenzierung des Unterrichts“ leider nicht stattfindet/stattfinden kann.
Medizinischer Support und eine entsprechende Vorbereitung schon während der Ausbildung können hier leicht Abhilfe schaffen.
Einladung an verantwortliche (politische) Entscheidungsträger*innen!
Ich lade sämtliche Politiker*innen ein, einer Sitzung der Förderkommission „beizuwohnen“,
um die Lebensgeschichten der betroffenen Minderjährigen zu hören. Ebenso prägend wäre
es für Erwachsene diese Kinder und Jugendlichen einen Vormittag lang zu begleiten, um mit
eigenen Augen die Verletzlichkeit und den „Schrei nach Hilfe“ zu sehen!
Ich bin sicher, dass ein weiteres Ignorieren der Missstände danach nicht mehr möglich ist!
Diese Kids haben sich ihre Lebenslage nicht ausgesucht und es nicht verdient, verwahrlost,
schutzlos und ignoriert auf Schulbildung verzichten zu müssen.
Zahlreiche Menschen im Schulbereich suchen täglich nach Lösungen, schaffen Bündnisse
und vernetzen sich, um zu helfen. Doch die Ressourcen sind ausgeschöpft. Es geht nicht
mehr weiter. Das Schulsystem benötigt „jetzt“ die tatkräftige Unterstützung der politischen
Entscheidungsträger*innen. Ein Einsatz in diesem Bereich ermöglicht eine große Chance auf
„Bildung für alle Kinder“ (Inklusionskinder und deren mitleidenden Schulkameraden*innen)
und in weiterer Folge eine enorme Entlastung für unser gesellschaftliches System (Bildung,
Wirtschaft, Justiz, Gesundheit und Soziales) in Österreich.
Daniela Jagsch Wien, am 02.07.2021
Daniela Jagsch, BEd.
Schulleiterin
Heilstättenschule
1150 Wien, Huglgasse 3
Tel. . +43 1 4000 56 0080
Fax: +43 1 4000 99 56 0080
Mail: direktion.915053@schule.wien.gv.at
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