Wir hatten uns das anders vorgestellt: Als unsere Tochter im Alter von 3 1/2 Jahren ihr erstes Fahrrad bekam, dachten wir an Familienausflüge mit Fahrrad – die Große mit dem eigenen Fahrrad, die kleine Schwester in den Kindersitz und los geht’s. Aber S. sah das anders, sie war zwar sehr stolz und glücklich und setzte auch sofort ihre Lieblingspuppe in den montierten Puppensitz, aber dann wurde ihr Rad geschoben, sechs Monate lang, bis zum Winter! Erst im nächsten Frühjahr stieg sie auf und fuhr los, dann gleich ohne Stützräder und als hätte sie nie was anderes getan.
Wir hätten's wissen müssen, denn dieses vorsichtige Verhalten zeigte sie von Anfang an; schon ihre KameradInnen aus der Krabbelgruppe schossen sofort unhaltbar los, sobald sie raus hatten, wie man sich vorwärts bewegt. Als unsere Tochter krabbeln konnte, tat sie das lange Zeit nur, wenn wir alleine in vertrauter Umgebung waren; sobald wir das Haus verließen, und ich sie auf den Boden setzte, saß sie und saß und saß....als hätte sie vergessen, wie sie von der Stelle kommt. Glücklicherweise hatten wir damals einen sehr klugen Kinderarzt, für den zählte, dass sie sich fortbewegen kann, das auch regelmäßig macht, auch wenn sie es nicht jedem auf Wunsch sofort zeigt.
„Das Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht“:
Zurückhaltende, schüchterne Kinder fühlen sich nicht selten schlecht verstanden und deshalb unter Druck gesetzt. Und umgekehrt, Eltern und (leider auch) pädagogisches Personal beobachten diese stillen Kinder, versuchen zu helfen, indem sie „anschieben“ und übersehen dabei, wie diese sich dann weiter in ihr Schneckenhaus zurückziehen. Begründet werden diese pädagogischen Eingriffe mit Blick auf die Zukunft des unsicher wirkenden Kindes: man versuche eben, das Selbstwertgefühl zu stärken, um dem Kind das spätere Leben zu erleichtern. Man nimmt also das gegenwärtige Verhalten zum Maßstab und verlängert es einfach in die Zukunft.
Mögliche Gründe für Schüchternheit:
· Manche Kinder reagieren physiologisch übersensibel, d.h. sie fühlen sich in lauter Umgebung unwohl, gehen zu fremden Personen, und sind diese noch so freundlich, auf Abstand, denn Nähe bedeutet für sie Spannung und Stress. Auch wenn es kein „Schüchternheitsgen“ gibt, so können schüchterne Verhaltensmuster Veranlagung sein. Der amerikanische Psychotherapeut Bernardo Carducci stellte fest, schon der Gedanke an „einschüchternde“ Situationen löst Reaktionen im dazugehörigen Hirnareal aus; denn bei gehemmt und unsicher wirkenden Kindern ist die rechte – für Gefühle zuständige - Gehirnhälfte stärker aktiviert als die linke. Gefühle sprechen eine andere Sprache als der Verstand, daher kann man sich Bemerkungen wie: „Stell dich nicht so an, du bist schon groß“, „Die tun dir nichts“, und, die angstauslösendste Bemerkung überhaupt: „Du musst keine Angst haben“ einfach sparen, sie sind kontraproduktiv.
· Neben neurologischen Faktoren spielen Umwelteinflüsse eine wichtige Rolle beim Schüchternsein und – werden. Sensible Kinder, die bei Neuem erstmal auf Distanz gehen, haben dieses Verhalten oft durch elterliches Vorbild erlernt. Und schüchterne Eltern versuchen dann, ihren Kindern deren Schüchternheit „auszutreiben“; übersehen aber, dass Kinder hauptsächlich von Vorbildern lernen....und nicht von Rat“schlägen“.
Typische Verhaltensweisen schüchterner Kinder:
· Sie mögen keine lauten Geräusche und unstrukturierte Situationen. Darauf reagieren sie angespannt und ziehen sich zurück.
· Sie brauchen längere Aufwärmphasen in neuer Umgebung.
· Sie nehmen vorsichtig Kontakt zu anderen auf, beobachten z.B. in der neuen Kindergruppe erstmal lange das Geschehen, bevor sie mitmachen.
Wichtige Aufgaben für Bezugspersonen:
Wie ein Kind seine Schüchternheit erlebt, ob als Defizit oder als gleichwertiges etwas Anders sein – Chance für einen eigenständigen Lebensstil oder Mauerblümchen – Dasein – hängt von der Unterstützung ab, die das Kind erfährt:
· Geben Sie Ihrem Kind Zeit, sich auf neue Situationen und Menschen einzustellen.
· Unterstützung bedeutet, sich dem Tempo des Kindes anpassen, nicht umgekehrt.
· Fragen Sie sich als Eltern: „Versuche ich etwa, meine eigene Schüchternheit über das Kind zu behandeln?“
Reagiert ein Kind eher schüchtern, zurückhaltend, so ist das nicht zwingend ein lebenslanges Schicksal, das ihr/ihm für immer zu schaffen macht. Nehmen Sie Ihr Kind so an, wie es ist, lernen Sie das Verhalten Ihres Kindes als eine mögliche Haltung zu akzeptieren, wie man mit Menschen und Situationen umgehen kann.
Aus meiner Sicht sind diese Kinder die große Chance unserer Zukunft, denn auf Grund ihres ausgeprägten Beobachtens haben sie gelernt, empathisch zu sein und ein Gefühl dafür entwickelt, zu spüren, was Andere brauchen. Die kleine Radfahrerin vom Beginn dieses Artikels ist heute erwachsen und arbeitet als Sozialarbeiterin mit obdachlosen, süchtigen Menschen. Sie hat also gelernt, sich täglich schnell auf neue Situationen einzustellen, dabei hilft ihr nicht zuletzt ihre Empathie....
Literaturempfehlungen:
Für Kinder: „Das kleine Ich bin Ich“ von Mira Lobe
„Das große und das kleine Nein“ von Gisela Braun und Dorothee Wolters
Cornelia Türke
Als geborene Wienerin kam sie Anfang 2018 nach über 30 Jahren in Deutschland nach Österreich zurück. Sie lebt nun in Rabenstein/Pielach und arbeitet im Mostviertel und in Wien.
In ihrer Praxis bietet sie psychologische Beratung, Coaching, EMDR,
Eltern -und Erziehungsberatung
Paarberatung und Prüfungscoaching an.
Seit 2018 arbeitet sie ehrenamtlich für den Österreichischen Kinderschutzbund - Wien
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