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Beschämung im Schulalltag - Teil 2: Erziehung durch Wertschätzung

Aktualisiert: 6. Mai 2021

Wer selbst einmal beschämt wird, neigt dazu, selbst andere zu beschämen. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass wir alle unsere eigene erlebte Schamgeschichte aufarbeiten und uns mit dieser auseinandersetzen. Nur so ist es möglich, dass wir besonders im Umgang mit Kindern, aber auch mit allen anderen Menschen, auf beschämendes Handeln verzichten und auf einen wertschätzenden Umgang miteinander achten können.



Die Folgen von Beschämung


Von Aggressionen bis hin zum Suizid


Ein Mensch kann ein Schamgefühl, dass sich negativ auf das innerpsychische Wohlbefinden aus-wirkt, nicht auf Dauer aushalten. Bei regelmäßiger Beschämung entwickelt eine Person sogenannte ‚Abwehrreaktionen‘. Diese regulieren unbewusst die Psyche der betroffenen Person, um deren Integrität zu schützen.


Diese ‚Abwehrreaktionen‘ können in zwei Gruppen unterteilt werden. Zum einen die aggressiven Reaktionen, welche sich gegen andere richten und zum anderen die autoaggressiven Reaktionen, welche sich gegen sich selbst richten. Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen zeigen, dass männliche Kinder tendenziell zu ersteren und weibliche Kinder zu letzteren Reaktionen neigen. Wichtig ist aber, dass eine klare Zuordnung und Kategorisierung der Geschlechter dabei weder möglich noch zielführend ist.


Aggressive Reaktionen


• PROJEKTION:

Die eigenen Gefühle der Scham, also das, wofür man sich schämt, werden auf eine andere Person übertragen. Beispielsweise könnte ein Schüler, der sich vor homosexuellen Phantasien schämt, diese auf andere projizieren, indem er diese als ‚Schwächlinge‘, ‚Schwuchtel‘ etc. bloßstellt.

Um sich selbst von den eigenen Schamgefühlen abzulenken, werden also anderen Mitschüler diese Schamgefühle zugeschrieben und damit einhergehend schikaniert, ausgegrenzt und ebenfalls beschämt.


• ARROGANZ UND ‚COOLNESS‘:

Gefühle wie Unsicherheit und Selbstwertzweifel sollen nicht gezeigt werden, da diese eine Angriffsfläche bieten. Daher wird eine Fassade von Selbstsicherheit vorgetäuscht, um sich vor anderen zu schützen und sich selbst nicht angreifbar zu machen.


• DISSOZIALES VERHALTEN:

Um die ohnmächtige Scham selbst nicht fühlen zu müssen und ein positives Selbstbild erhalten zu können, findet eine Wendung von passiv/Ohnmacht zu aktiv/Macht statt. Ähnlich wie bei der Projektion spielt die betroffene Person durch Wut, Trotz und Gewalt nun lieber Täter statt Opfer.


Autoaggressive Reaktionen


• FEHLER VERTUSCHEN:

Bei einem Fehler erwischt zu werden führt zu einem unerträglichen Gefühl der Beschämung, deshalb muss um jeden Preis der begangene Fehler vertuscht werden – durch lügen, schummeln oder somatisieren (z.B. Entwicklung von Bauchkrämpfen, um Unterrichtsstunden fernbleiben zu können).


• KOLLABIEREN:

Den Glauben an sich selbst und an die eigenen Fähigkeiten zu verlieren, kann dazu führen, psychisch zu kollabieren. Als Beispiel wäre ein Schüler zu nennen, welcher beim Singen im Musikunterricht ausgelacht wird. Daraus folgt der Gedanke, wenn ich gar nicht erst singe, kann mich auch niemand auslachen.


• ANPASSUNG UND DISZIPLIN:

Der Versuch, sich vor Beschämung zu schützen, indem man sich brav und diszipliniert verhält. Wenn ich ganz unauffällig bin und mich niemand wahrnimmt, dann werde ich auch nicht beschämt.


• SUCHTVERHALTEN:

Betäubung von Schamgefühlen durch Suchtverhalten wie Drogenkonsum, Ritzen, Essstörungen usw.


• SELBSTSCHUTZ:

Man demonstriert eine absichtsvolle Schamlosigkeit gegenüber anderen. So macht sich beispielsweise jemand selbst zum Klassenclown. Die Entscheidung darüber, dass jemand über ihn lacht, geht dann ja schließlich aktiv von der eigenen Person aus.


• ERSTARRUNG:

Emotionen und verletzbare Gefühle werden eingefroren und/oder verborgen, um sich selbst zu schützen. Dies kann zu Depressionen bis hin zum Suizid führen. Beschämungen wirken sich also massiv auf die Persönlichkeit und das Verhalten der betroffenen Menschen aus. Zudem gefährden Beschämungen in der Schule die Lernerfolge, die Qualität der Lehre als auch das menschliche Miteinander. Es ist daher umso wichtiger, dass vor allem die

Pädagog*innen sich ihrer oftmals nicht hinterfragten institutionellen Macht bewusst werden, die Schamproblematik erkennen, aufarbeiten und behandeln. Denn wie wir gesehen haben, kann aggressives Verhalten bis hin zum Suizid die Folge von einem ‚Zuviel‘ an Beschämung sein.


Wertschätzen statt beschämen


Lehrkräfte müssen also unbedingt zum Ziel haben, dass sie sich gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern wertschätzend verhalten. Dies beginnt bei der Leistungsrückmeldung in respektvoller Weise. Folgendes Beispiel gibt eine Idee für einen konstruktiven Umgang mit Beschämung:


Eine Schülerin meldet sich freiwillig, um eine sehr komplizierte Rechenaufgabe an der Tafel vorzurechnen. Dabei macht sie lediglich einen kleinen Rechenfehler. Einige Klassenkamerad*innen wie auch die Lehrkraft lachen. Um eine solche Situation nicht erneut erleben zu müssen, traut sich die Schülerin zukünftig nicht mehr, sich freiwillig zu melden oder etwas an der Tafel vorzuzeigen.


Zunächst liegt es nun in der Möglichkeit der Lehrkraft, diese Situation als Schamsituation zu er-kennen. Ist sich die Lehrkraft dessen bewusst, so könnte diese anschließend das Gespräch mit der Schülerin suchen und sich für das Verhalten entschuldigen. Die Lehrkraft müsste klarstellen, dass das Lachen nicht auf die Schülerin als Person zurückzuführen sei, sondern aus der Situation heraus entstanden ist. Denn eigentlich war die Lehrkraft und die Klasse beeindruckt davon, dass die Schülerin eine sehr komplexe Aufgabe ohne Problem lösen konnte. Die Tatsache, dass sie aber dann bei einem recht banalen Fehler ‚scheiterte', führte zu diesem kollektiven Lachen.


Dem Kind sollte nun also Wertschätzung und Ermutigung entgegengebracht werden. Es ist schließlich sehr mutig von der Schülerin, sich freiwillig zu melden, da es sonst keiner aus der Klasse getan hat. Ebenso war der Fehler im Vergleich zur ganzen Aufgabe so unbedeutend, dass sie Stolz sein kann, eine sonst so schwierige und komplexe Aufgabe lösen zu können. Mit einer aufrichtigen Entschuldigung und der Thematisierung der Beschämung könnte es der Schülerin nun möglich sein, diese Erfahrung ohne größere Einbußen des Selbstbewusstseins zu verarbeiten und sich das nächste Mal doch wieder freiwillig zu melden.


Wer selbst einmal beschämt wird, neigt dazu, selbst andere zu beschämen. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass wir alle unsere eigene erlebte Schamgeschichte aufarbeiten und uns mit dieser auseinandersetzen. Nur so ist es möglich, dass wir besonders im Umgang mit Kindern, aber auch mit allen anderen Menschen, auf beschämendes Handeln verzichten und auf einen wertschätzen-den Umgang miteinander achten können.


Leseempfehlung:

Das Buch 'Beschimpfen, bloßstellen, erniedrigen — Beschämung in der Pädagogik’ des bekannten Erziehungswissenschaftlers Benno Hafeneger. „Der Band versteht sich als ein aufklärender Beitrag über die bisher kaum erhellte >>Pädagogik der Beschämung<<.“ (Hafeneger 2013, S.11)


Autor des Artikels: Michael Stieber B.A.

Studiert Bildungswissenschaft an der Universität Wien












Literaturverzeichnis:


HAAS, D. (2011): Roter Kopf... gesenkter Blick - was Lehrkräfte über Scham wissen sollten. Theo- Web. Zeitschrift für Religionspädagogik, 10(2), 109-115.


HAFENEGER, B. (2013): Beschimpfen, bloßstellen, erniedrigen. Beschämung in der Pädagogik. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel.


HILGERS, M. (2012): Scham. Gesichter eines Affekts. 4. Auflage, Göttingen: Vandenhoeck Ruprecht.


IDB - INITIATIVE FÜR EIN DISKRIMINIERUNGSFREIES BILDUNGSWESEN (2017): Diskriminierung im Österreichischen Bildungswesen. Bericht 2017.


MARKS, S. (2013): Scham im Kontext von Schule. Soziale Passagen Journal für Empirie und Theorie Sozialer Arbeit, 5(1), 37-49.


SCHNEE, M. (2014): Scham und Beschämung in der Schule. Gestalttherapie – Forum für Gestalt-perspektiven, 28(1), 58-80.


WILDT, B. (2011): Schule der Beschämung und der Scham. Zeitschrift Für Psychodrama und Soziometrie, 10(1), 57-68.


WURMSER, L. (1990): Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Berlin: Springer.



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