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30 Jahre Gewaltverbot in der Erziehung - ein “Zeitzeugen-Blick“ auf Univ. Prof. Dr. Hans Czermak

Aktualisiert: 29. Juni 2021

30 Jahre Gewaltverbot in der Erziehung - ein “Zeitzeugen-

Blick“ auf Univ. Prof. Dr. Hans Czermak (1913-1989) und sein Engagement für eine kinderfreundliche Gesellschaft.



Univ.Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Christian Aigner


„UN-Bericht zur Lage der Kinder: Jedes dritte Kind ist weltweit von Mangelernährung betroffen (UNICEF). So würden Millionen Kinder mit einer Kost versorgt werden, die zu wenig Vitamine und Nährstoffe enthält. Weltweit bekommen demnach fast 45 Prozent der Kinder zwischen sechs Monaten und zwei Jahren weder Obst noch Gemüse zu essen“ (TT vom 21.10.2019)


Warum trage ich das vor? Weil es dem Mann, den es hier zu ehren gilt, dem Wiener

Kinderarzt und Pädiater Univ.Prof. Dr. Hans Czermak, ebenso ein Anliegen gewesen

wäre wie mir, darauf hinzuweisen, dass Gewalt gegen Kinder verschiedene Formate –

kleine private und große gesellschaftliche, politische – haben kann.

Und dass das Eintreten gegen Gewalt an Kindern nicht nur in konkreter Hilfe, so

wichtig diese ist, bestehen sollte, sondern in Bewusstseinsbildung darüber, die Lebensbedingungen von Kindern – hier wie anderswo – kritisch auf „strukturelle Gewalt“ hin zu betrachten. Strukturell meint alles, was an wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und materiellen Bedingungen dazu beiträgt, dass insbesondere die Kleinsten unter uns darunter zu leiden haben.


1988 hatte mich Czermak bei einem Treffen in einem Kaffeehaus in meinem damaligen Wohnort Bregenz in den Vorstand des Österreichischen Kinderschutzbundes – Verein für Gewaltlose Erziehung eingeladen, in dem ich seither ohne Unterbrechung bin.

Die Jahre vor seinem Tod am 12.12.1989 versuchte er, seinen spezifischen Kinderschutzgedanken, eben jenen der Sensibilität gegenüber struktureller Gewalt, zu

verbreiten. Damit war er auch ein radikaler Kritiker all jener gesellschaftlicher Strukturen, die Kindergefährdung und -Verwahrlosung fördern: Zeitmangel und Stress, kinderfeindliche Wohn- und Arbeitsverhältnisse, autoritäre Hierarchien in Schule und Gesellschaft, übertriebenes Leistungsdenken u.a.m. Z.B. zettelte er noch 1989 eine „Woche ohne Gewalt“ in Zusammenarbeit mit Zeitungen und dem ORF an („Deren Kinder waren alle meine Patienten...“). Auch der „Gewaltverzichtsausweis“, den er angeregt hatte, war eine solche öffentlichkeitswirksame Aktion, mit der er sein politisches Ziel, eine Lobby für Kinder zu schaffen, vorantreiben wollte.


Gewalt gegen Kinder ist es denn auch, wenn wir in einem Inserat lesen „Wohnung zu

vermieten, Kinder unerwünscht“ oder wenn Kinder schutzlos und unnötig den Gefah-

ren des Straßenverkehrs ausgesetzt sind. Hier kann struktureller Gewalt auch schon auf kommunaler Ebene begegnet werden – wenn denn das entsprechende Bewusstsein dafür da ist. Als ich dann 1990 nach einer Solidaritätskandidatur für die Grünen nicht ganz freiwillig auf einem nicht erwarteten Vorzugsstimmen-Mandat in den Bregenzer Gemeinderat „musste“, dachte ich mir als Vater von relativ kleinen Kindern, mich auf das Thema „Lebensqualität für Kinder“ zu spezialisieren. Tatsächlich gelang es, einen recht autonomen „Arbeitskreis Kinderfreundliche Stadt“ zu etablieren, der z.B. bei allen Bauvorhaben zur Prüfung auf etwaige kinderfeindliche Maßnahmen befragt wurde. Dieser Arbeitskreis existiert heute noch, wenngleich mittlerweile weniger kritisches Potenzial dahinter zu stecken scheint.


Zugleich besuchten wir Beispiele kinderfreundlicher Stadt- und Ortsgestaltung im benachbarten Ausland, etwa das 1979 – im Internationalen Jahr des Kindes – im elsässischen Schiltigheim bei Straßburg auf Initiative des Oberbürgermeisters gegründete Kinderparlament. Wir besuchten auch kinderfreundliche Vorzeige-Städte wie z.B. Echingen bei München, wo beispielsweise der Schulweg von Kindern durch entsprechende Baumaßnahmen kein einziges Mal die örtlichen Verkehrsadern querte. Leider sind derartige Initiativen heute wieder eher in den Hintergrund getreten.


All diese Impulse und Initiativen wären ohne die Anregung und Ermutingung von Hans Czermak nicht zustande gekommen. Nachdem nun nach unserer und Hans Czermaks Auffassung Gewalt gegen Kinder in der Familie immer auch etwas mit elterlicher Ohnmacht zu tun hat, begannen wir, Elternbildung als Bewusstseinsbildung (öffentlich) und Hilfestellung in schwierigen Erziehungssituationen (privat) zu entwickeln. Nach einem entsprechenden Kongress mit dem bis heute geführten Titel „Unterstützen statt Belehren“ im November 2001 kann dann der damalige Leiter der Jugendwohlfahrt, Dr. Manfred Weber, auf mich zu und meinte: „Herr Aigner, da müssen wir was machen!“. Und das war der Startschuss zu dieser österreichweit über alle Bundesländer hinweg einmaligen Institution „Elternbildung Tirol“ mit 1.3.2003 – mit Unterstützung des Landes Tirol (Abteilung Kinder- und Jugendhilfe), des SOS-Kinderdorfs (Fachbereich Pädagogik), der Stadt Innsbruck und zahlreicher Elternbildungsträger – und das alles wiederum ein spätes Erbe Hans Czermaks.


Die Elternbildung Tirol soll dabei v.a. allem die bestehenden Angebote koordinieren und vernetzen, sodass Eltern und pädagogische Einrichtungen bei Bedarf über diese Zentrale in Innsbruck entsprechende Informationen, Angebote und ReferentInnen-Vermittlung abrufen können.


Hans Czermak hätte seine helle Freude mit dieser Entwicklung.


Wir gedenken seiner 30 Jahre nach seinem Tod in Dankbarkeit.


Univ.Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Christian Aigner

Psychoanalytiker, Psychotherapeut, Bildungswissenschaftler

Weiherburggasse 27 i, A-6020 Innsbruck

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